K102 Fanfare
for a new theatre – Fanfare für ein neues Theater – Fanfare pour un nouveau théâtre – Fanfara per un teatro nuove. Per due trombe in do
Besetzung: 2 Trompeten in C.
Aufführungspraxis: Die Fanfare ist auf genau dreißig Sekunden metronomisiert. Deshalb darf die Schluss-Brevis nicht nach Virtuosenart über den eigentlichen Wert von sechzehn Achteln hinaus ausgehalten, also nicht in der Weise geblasen werden, als sei sie mit einer Fermate versehen.
Aufbau: Die Fanfare ist ein Stück für zwei Trompeten und nicht ein Stück für erste und zweite Trompete. Der Tonumfang der beiden Instrumente reicht von (erstes Instrument) c1 bis h2 beziehungsweise von (zweites Instrument) c1 bis ais2.
Aufriss: Es handelt sich um ein mit einem nicht angezeigten Sechsachtel-Takt als Einleitung versehenes, darüber hinaus taktstrichloses, praktisch spielanweisungsfreies Instrumentalstück im Umfang von 78 Achtelwerten bei M.M. = 144. Takt 1 besteht aus 6 Achteln forte, die vorletzte Achtel ist als marcato-sforzato-Sechzehntel vor vorangegangener Sechzehntelpause und nachfolgender Achtelpause geschrieben; Takt 2 besteht taktstrichlos aus 56 unterteilten und forte zu spielenden Achtelwerten mit einer abschließenden, nicht mit Fermate versehenen Brevis (16 Achtelwerte).
Stil: Das Stück beruht in beiden Partien auf je 4 mit Primrepetitionen versehenen Zwölftonreihen. Die Melodien der beiden Stimmen werden mit immer neuen rhythmischen Mustern gegeneinander versetzt. Außer im Einleitungstakt, dem ersten Achtelwert und der Schlussbrevis gibt es keinen in beiden Stimmen gleichzeitig gespielten identischen Ton. Das Stück lässt sich in kleine Achtelwert-Konstruktionsblöcke auseinander nehmen, wobei jeder Block ein anderes rhythmisches Muster ausweist, das sich in keinem der übrigen Blöcke mehr wiederholt. Die Zwölftonreihen wirken in diesem Verfahren gewissermaßen wie zwei Leisten, zwischen denen die Muster, denen sie Halt geben, eingeschoben werden. Durch die metrische Verschiebung der zwischen den beiden Trompetenstimmen getrennt aufgestellten Reihen im Verhältnis zueinander kommt es nicht zu einem Reihenschnitt an derselben Stelle, so dass sich die Leisten wie bei Konstruktionsholz gegenseitig halten. Die mikrorhythmische Versetzung zwischen den Stimmen innerhalb der Blöcke lässt streckenweise die Musik wie von einer einzigen Trompete gespielt erklingen. Dafür sorgen Muster wie Quintole zu Triole, Quintole zu Achtel, Septole zu Zweiunddreißigstel + Triole, Sechzehntel zu Sextole und dergleichen. Beide C-Trompeten werden lagenmäßig unterschiedslos eingesetzt. Sofern man voraussetzt, dass es sich um ein Stück für 2 Trompeten und nicht für 1. und 2. Trompete handelt, reicht der Tonumfang der 1. Trompete von c1 bis h2, der Tonumfang der 2. Trompete von c1 bis ais2.
Widmung: >to LINCOLN and GEORGE<* [ Für Loncoln und George].*
* Lincoln Kirstein und George Balanchine.
Dauer: 0' 30".
Entstanden: Hollywood 23. März 1964.
Uraufführung: 23. April 1964 im New York State Theatre, Lincoln Center, New York.
Bemerkungen: Am 23. April 1964 eröffnete Lincoln Kirstein unter anderem mit Strawinskys Movements und Agon das neue New York State Theatre im Lincoln Center, mit dem ein neues Kapitel amerikanischer Ballettgeschichte begann. Aus diesem Anlass wünschte sich Kirstein eine eigene Fanfare für Trompeten, die, ganz sicher nach Bayreuther Vorbild (er benutzte auch den deutschen Ausdruck Festspielhaus), vom obersten Foyer-Balkon des Hauses her geblasen werden und das Publikum auf den kurz bevorstehenden Beginn der Veranstaltung aufmerksam machen sollte, praktisch also eine gestaltete Pausenzeichen-Musik im Umfang einer halben Minute. Er wolle, so heißt es weiter, kaum erwarten, dass ihm Strawinsky dafür eine 30 oder auch nur 15 Sekunden dauernde Fanfare schreiben werde. Er meine es aber ganz ernsthaft, und er bot aus eigenen Mitteln eintausend Dollar für das Stück, das er sich an diesem Tage als Geschenk für George Balanchine gedacht habe, und es könnten silberne Trompeten sein (may be silver trumpets). Offensichtlich glaubte er selbst nicht so richtig an einen Erfolg (I don’t suppose). Tatsächlich hat Strawinsky zunächst abgewinkt. In einem Brief an Kirstein vom 21. März 1964, der wohl als Antwort zu gelten hat, schrieb ihm Strawinsky sehr bedauernd, er sei zeitlich zu spät gekommen. Wenn er ihn etwas früher gefragt hätte, würde er es gerne, und natürlich kostenlos, getan haben. Aber er müsse bald auf Reisen gehen und er brauche jede Minute für die Komposition von Wystanns schönem Gedicht – gemeint ist die Textvorlage der Kennedy-Elegie. Aber schon zwei Tage später, am 23. März 1964, schrieb er die Fanfare für 2 C-Trompeten.Ob er Spaß an dem ungewöhnlichen Auftrag bekommen hatte, ob er sich Kirstein gegenüber verpflichtet fühlte oder ob er brieflich zögerte, um die Überraschung größer werden zu lassen, bleibt derzeit Spekulation. Die Fanfare for a New Theatre konnte jedenfalls am Eröffnungstag geblasen werden, und sie dauerte, nach den Metronomangaben richtig gespielt, Kirsteins Wunsch entsprechend - und das hat sich der zeitdauernbewusste Strawinsky mit einem möglicherweise lachenden Auge gewiss nicht nehmen lassen - auf die Sekunde genau eine halbe Minute. Deshalb hat Strawinsky statt einer gelängten Schlussnote die Langnote Brevis ohne Fermate gewählt.
Bedeutung: Bei der Fanfare handelt es sich um Funktions- und Gebrauchsmusik und gleichzeitig um einen Versuch, das traditionelle Klingelzeichen stilgerechter durch ein kleines Stück Kunstmusik zu ersetzen. In früheren Zeiten wurden Theateraufführungen durch Tuschs eingeleitet, die in England flourishes hießen. Aus ihnen entwickelte sich die Ouvertüre, die nach und nach ihre Funktion als Hinweiszeichen für die in Kürze beginnende Veranstaltung verlor und selbst wieder Kunstmusik wurde, der heute eine andere Ouvertüre, eben das Klingelzeichen, voraufgeht*.
* Auch Karlheinz Stockhausen komponierte (1992) ein (‚Lichtruf’ übertiteltes) Pausenzeichen (für die Robert Schumann Hochschule Düsseldorf).
Historische Aufnahme: New York City Columbia 30th Studio, 11. Dezember 1964 mit den beiden Trompetern Robert Heinrich und Robert Nagel.
CD-Edition: nicht enthalten.
Autograph: Nach Angaben Christian Gobaults ist das Autograph in den Besitz von John Cage gelangt.
Copyright: 1968 durch Boosey & Hawkes Music Publishers Ltd.
Fassungen: Aus einem Schreiben Strawinskys an Robert Holton vom 6. Juni 1964 geht hervor, dass er die Musik der Fanfare zu diesem Zeitpunkt noch nicht an den Verlag nach London geschickt hatte, sondern sie auf seiner nächsten, für 9 Tage später geplanten Reise nach England selbst mitzubringen beabsichtigte. Das kurze Trompeten-Stück wurde von Boosey & Hawkes aber erst in einer Spielausgabe als Duo mit beigelegtem zweiten Exemplar im Umfang von jeweils einer Seite veröffentlicht. Die Fanfare erschien Anfang 1968 als Spielausgabe für zwei Trompeten. Das Belegexemplar ging bei der British Library am 27. Februar 1968 ein. Der Verlagsvertrag mit Boosey & Hawkes wurde am 4. August 1966 geschlossen.
Ausgaben
a) Übersicht
102-1 (1968) P; Boosey & Hawkes London; 1 S. 4°; B. & H. 19650.
b) Identifikationsmerkmale
102-1 IGOR STRAVINSKY / FANFARE / FOR A NEW THEATRE / Two Trumpets/ BOOSEY & HAWKES // IGOR STRAVINSKY / FANFARE / FOR A NEW THEATRE / Two Trumpets/ Boosey & Hawkes / Music Publishers Limited / London · Paris · Bonn · Johannesburg · Sydney · Toronto · New York// (Partitur-Spielausgabe klammergeheftet 23,5 x 31,2 (4°) mit eingelegtem 2. Exemplar 23,3 x 31,1; 1 [1] Seite + 4 Seiten Umschlag helltomatenrot auf grünbeige [Außentitelei, 2 Leerseiten, Seite mit verlagseigener Werbung >Igor Stravinsky<* Stand >No. 40< [#] >7.65<] + 2 Seiten Vorspann [Innentitelei, Leerseite] + 1 Seite Nachspann [Leerseite] + inliegendes 2. Exemplar [Titelei, Leerseite, Notentextseite unpaginiert, Leerseite]; Kopftitel >FANFARE FOR A NEW THEATRE<; Widmung Notentextseite unterhalb Kopftitel mittig >to LINCOLN and GEORGE<; Autorenangabe Notentextseite unpaginiert unterhalb Kopftitel rechtsbündig zentriert >IGOR STRAVINSKY / 1964<; Rechtsschutzvorbehalt Notentextseite unterhalb Notenspiegel linksbündig >© 1968 by Boosey & Hawkes Music Publishers Ltd.< rechtsbündig >All rights reserved<; Platten-Nummer >B. & H. 19650<; Herstellungshinweis Notentextseite unterhalb Notenspiegel unter Rechtsschutzvorbehalt rechtsbündig als Endevermerk >Printed in England<) // (1968).
* Angezeigt werden ohne Niederlassungsangaben zweispaltig ohne Editionsnummern und ohne Preisangaben >Operas and Ballets° / Agon [#] Apollon musagète / Le baiser de la fée [#] Le rossignol / Mavra [#] Oedipus rex / Orpheus [#] Perséphone / Pétrouchka [#] Pulcinella / The flood [#] The rake’s progress / The rite of spring° / Symphonic Works° / Abraham and Isaac [#] Capriccio pour piano et orchestre / Concerto en ré (Bâle) [#] Concerto pour piano et orchestre / [#] d’harmonie / Divertimento [#] Greetings °° prelude / Le chant du rossignol [#] Monumentum / Movements for piano and orchestra [#] Quatre études pour orchestre / Suite from Pulcinella [#] Symphonies of wind instruments / Trois petites chansons [#] Two poems and three Japanese lyrics / Two poems of Verlaine [#] Variations in memoriam Aldous Huxley / Instrumental Music° / Double canon [#] Duo concertant / string quartet [#] violin and piano / Epitaphium [#] In memoriam Dylan Thomas / flute, clarinet and harp [#] tenor, string quartet and 4 trombones / Elegy for J.F.K. [#] Octet for wind instruments / mezzo-soprano or baritone [#] flute, clarinet, 2 bassoons, 2 trumpets and / and 3 clarinets [#] 2 trombones / Septet [#] Sérénade en la / clarinet, horn, bassoon, piano, violin, viola [#] piano / and violoncello [#] / Sonate pour piano [#] Three pieces for string quartet / piano [#] string quartet / Three songs from William Shakespeare° / mezzo-soprano, flute, clarinet and viola° / Songs and Song Cycles° / Trois petites chansons [#] Two poems and three Japanese lyrics / Two poems of Verlaine° / Choral Works° / Anthem [#] A sermon, a narrative, and a prayer / Ave Maria [#] Cantata / Canticum Sacrum [#] Credo / J. S. Bach: Choral-Variationen [#] Introitus in memoriam T. S. Eliot / Mass [#] Pater noster / Symphony of psalms [#] Threni / Tres sacrae cantiones°< [° mittenzentriert; °° Titelfehler original].
K Catalog: Annotated Catalog of Works and Work Editions of Igor Strawinsky till 1971, revised version 2014 and ongoing, by Helmut Kirchmeyer.
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