K1*
Sonate für Klavier in fis-moll - Sonate pour piano en Fa#-mineur - Piano Sonata in f sharp minor - Соната для фортепиано - Sonata per pianoforte in Fa diesis minore
* es gibt für die Sonate keinen autorisierten Originaltitel.
Aufbau: viersätziges Instrumentalwerk aus 318 (mit Wiederholung 332), 429, 168 und 390 Takten in konservierter Sonatenhauptsatzform. Da die Sonate als Druckwerk nicht von Strawinsky autorisiert worden ist, gibt es weder verbindliche Satzbezeichnungen, Metronomisierungsangaben oder gar Schreibfehlerberichtigungen noch einen originalen Werktitel. Eintragungen im Manuskript dürften von Nicolas Richter, nicht von Strawinsky stammen. Lediglich der erste Satz trägt mit der Bezeichnung >Allegro< eine Tempovorschrift. Darüber hinaus finden sich einige wenige allgemeine Tempodifferenzierungen und dynamische Hinweise. Weitere, heute im Druck erscheinende Akzidentien wurden 1973 von Eric Walter White teilweise im Analogieverfahren hinzugefügt, sind allerdings als Zutaten oder Verbesserungen von fremder Hand ausgewiesen.
Aufriss
Der erste Satz besteht der Zählung nach aus 318 Takten, in Wirklichkeit aus 332 Takten, weil die Takte 287 bis 298 wiederholt werden müssen und für die Wiederholung mit einer eigenen zweitaktigen Weiterführungsklausel versehen sind. Die fis-moll-Vorzeichnung bleibt bis einschließlich Takt 214 erhalten und wechselt der Vorzeichnung nach ab Takt 215 bis einschließlich Takt 252 nach dis-moll, um dann zu fis-moll zurückzukehren. Das durchgehaltene Vier-Viertel-Takt-Tempo wird bei Takt 28 zu >più lento<, ritardiert in Takt 29 und kehrt im selben Takt zum Originaltempo zurück. Die weiteren Differenzierungen sind Wechsel zwischen >poco agitato / agitato< (Takt 53/287), >ritardando< (Takt 55, 60, 76, 105), >a tempo< (Takt 61, 97, 106, 212, 243), >più mosso< (Takt 71, 93, 253, 276), >Tempo I< (Takt 89, 271), >poco accelerando< (Takt 104), >ritenuto< (Takt 182, 214, 237, 242, 285), >più largo< (211), >meno mosso< (Takt 279). Formtypologisch handelt es sich um eine nachgebildete Sonatenform ohne Introduktion, aber mit Koda.
– der zweite, unbezeichnete, von White >Vivo< genannte Satz umfasst 429 Takte im Zwei-Viertel-Takt-Metrum mit der Grundtonart A-Dur, die für das trioartige Mittelstück Takt 146 bis 235 nach F-Dur und in den Zwei-Viertel-Takt wechselt. Der Satz übernimmt die klassische Scherzo-Form.
– Der dritte, ebenfalls unbezeichnete, von White >Andante< genannte Satz hat Adagio-Funktion und ist wiederum dreiteilig. Er steht in D-Dur, moduliert im Mittelteil Takt 57-89 seiner insgesamt 168 Takte nach G-Dur, ohne den Sechs-Achtel-Takt aufzugeben, und kehrt wieder in die Ausgangstonart zurück. Die letzten Takte erfüllen modulatorische Aufgaben, indem sie den dritten Satz ohne Pause in das fis-moll der Urtonart überführen.
– Die 390 Takte des vierten Satzes hat White >Allegro< genannt. Sie bilden eine A-B-A1-Form aus schnellem Vordersatz (bis Takt 162), einem von Strawinsky so bezeichneten Andante-Mittelteil mit unterschiedlich gegliederter Binnenstruktur (Takte 163-263), einer Rückführung nach A mit einer Agitato-Koda ab Takt 318.
Stil: Schülerarbeit im Fortgeschrittenen-Stadium unter Einhaltung der Regeln einer chromatisch ausgeweiteten Dur-Moll-Tonalität ohne auffallende rhythmische oder formale Besonderheiten.
Widmung: Nicolas Richter gewidmet.
Dauer: etwa 30'.
Entstehungszeit: Seit Mitte 1903 bis 1904 wechselnd in St. Petersburg und auf dem Landgut Pawlowka seines Onkels Alexander Jelachisch bei Samara an der Wolga.
Uraufführung: 9. (gregorianisch: 21.) Februar 1905 im St. Petersburger Privatzirkel Nikolai Rimsky-Korssakows durch Nicolas Richter. Richter spielte die Sonate kurze Zeit später noch einmal in der Konzertreihe Abendzirkel für zeitgenössische Musik span>.
Bemerkungen: Strawinsky hatte sich 1902 von Bad Wildungen aus mit Nikolai Rimsky-Korssakow in Heidelberg bekannt gemacht, wo einer von Rimsky-Korssakows Söhnen studierte. Die Kompositionen, die er mitbrachte und über die nichts Näheres bekannt ist, trugen (dem darob niedergeschlagenen) Strawinsky lediglich den Rat ein, Harmonielehre und Kontrapunkt, aber nicht am St. Petersburger Konservatorium, wo er (noch) nicht hingehöre, sondern privat zu studieren. Mitte 1903 begann er mit der Komposition einer, wie er schreibt, „großen“ Klaviersonate, kam aber formal mit ihr so wenig zurecht, dass er sich entschloss, Rimsky-Korssakow, der seine Ferien auf dem Lande, in Kapachuka auf den Waldaihöhen nahe Okulowka, verbrachte, gegen Ende des Sommers 1903 erneut aufzusuchen. Diese Begegnung war für beide Komponisten entscheidend; denn von diesem Datum an beginnt das eigentliche dreijährige (nicht fünfjährige) Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Rimsky-Korssakow und Strawinsky, das in ein mit Anführungszeichen zu versehendes lockeres Freundschaftsverhältnis mündete. Strawinskys Aufenthalt dauerte etwa zwei Wochen. In dieser Zeit führte ihn Rimsky-Korssakow in die Sonatenhauptsatzform ein, ließ ihn unter seiner Aufsicht den ersten Satz einer Sonatine komponieren und lehrte ihn die Anfangsgründe der Orchestrierung. Alle weiteren Angaben gehen nicht mehr auf die unter Strawinskys Namen veröffentlichten Lebenserinnerungen ‚Chroniques de ma vie’ zurück.
Situationsgeschichte: Der über seine Verpflichtungen als Komponist und Konservatoriumsprofessor mit vielfältigen kaiserlichen Aufsichtspositionen betraute Rimsky-Korssakow hatte in St. Petersburg einen salonartigen Privatzirkel eingerichtet, wie er aus der Tradition des 19. Jahrhunderts in vielen vornehmen Häusern üblich und in der Regel auf feste Wochentage, bei Rimsky-Korssakow auf den Mittwoch, zugeschnitten war. Er zog die bedeutendsten in- und ausländischen Musiker an, und etliche der frühen Strawinsky-Kompositionen wurden, wie die Klaviersonate, auf diesen Mittwochsgesellschaften, uraufgeführt. Aus Yastrebtzews Erinnerungen an Rimsky-Korssakow, die 1962 herauskamen und die Strawinsky noch kennen lernte, sind viele Einzelheiten über Rimsky-Korssakows Mittwochsveranstaltungen bekannt geworden. Außerdem bestand in St. Petersburg eine öffentliche Konzertreihe, die sich „Abendzirkel für zeitgenössische Musik“ nannte. Hier wurden ebenfalls frühe Strawinsky-Werke gespielt, durch Richter erneut auch die Klaviersonate. Strawinsky, der fließend deutsch sprach, diente Rimsky-Korssakow bei Anwesenheit deutscher Gäste als Dolmetscher.
Eigenwertung: Strawinsky hat von dieser Sonate so wenig gehalten, dass er sie nicht in seine Werkliste aufnahm und ihr in der kurzen Zeit, da er nach Komponisten-Art seine Stücke noch zählte, nicht die Ehre einer Opuszahl zuteil werden ließ. Später äußerte er sich sehr erfreut über den Umstand, dass das Stück verschollen war. Dies gilt, den von ihm hoch eingeschätzten Trauermarsch auf den Tod Rimsky-Korssakows ausgenommen, auch für alle seine anderen, niemals von ihm autorisierten Frühwerke. Er war so wenig an ihnen interessiert, dass er etwa das ihm zugeschickte frühe Lied von den Pilzen, die in den Krieg ziehen, siehe KN5, nicht einmal auspackte. Als sich Strawinsky 1962 in dem zu dieser Zeit Leningrad heißenden St. Petersburg aufhielt, unterrichtete ihn niemand über die Tatsache, dass man zahlreiche seiner in einem Schließfach der offiziellen Leningrader öffentlichen Bibliothek eingelagerten frühen Kompositionen wohlbehalten wieder aufgefunden hatte. Vermutlich war man sich über die Probleme klar, die sich zu Lebzeiten Strawinskys daraus ergeben mochten. Bei der bekannten Selbstkritik des Komponisten musste man mit Recht davon ausgehen, dass er den Druck derartiger Schülerarbeiten niemals erlauben werde, wenn er schon seinerzeit die Autorisierung und die Veröffentlichung seiner Sonate verweigerte, als er das Manuskript noch greifen konnte.
Autograph und Manuskriptgeschichte: Von der Existenz der Sonate wusste man frühestens seit André Schaeffners Pariser Strawinsky-Publikation von 1931 sowie aus einem kleinen Abschnitt in den Lebenserinnerungen von 1935. Vermutlich durch Rückfragen bei Strawinsky wurde die formale Anlage des Stückes als viersätzig >I. Allegro<, >II. Andante<, >III. Scherzo<, >IV. Finale< beschrieben, die Entstehungszeit mit 1903 und 1904, die Kompositionsorte als St. Petersburg und Samara angegeben und Nicolas Richter als Widmungsträger ermittelt. André Schaeffner, der bis Ende des Zweiten Weltkrieges wohl unbefangenste und zuverlässigste publizierende Strawinsky-Kenner, teilte in seiner sorgfältigen Arbeit mit, das Manuskript der Sonate sei in den Besitz des Widmungsträgers übergegangen. Für mehr als dreißig Jahre waren das neben den spärlichen Selbstäußerungen Strawinskys die einzigen über die Sonate zur Verfügung stehenden Informationen, von denen alle künftigen Autoren zehrten. Im übrigen ging man davon aus, das Manuskript sei verschollen. Dann veröffentlichte 1971 Wladimir Smirnow in Leningrad die Kopie eines Klavier-Scherzo, das mit dem Entstehungsjahr 1902 aus noch früherer Zeit als die Sonate stammte. Im selben Jahr erschienen die Dialogues Strawinsky-Craft auf Russisch, denen Iwan Beletzki und Iwan Blaschkow eine Liste von bislang unbekannten Strawinsky-Kompositionen beigaben, die man inzwischen aufgefunden hatte. Zu ihnen gehörte auch die fis-moll-Klavier-Sonate. Eric Walter White gab sie mit Genehmigung von Strawinskys Witwe Vera Soudeikina 1974 bei Faber Music Ltd. London, bei denen auch das Copyright liegt, 42 Seiten stark im Quart-Format (4°) in einer anglisierten Fassung, mit Vorwort und Editionsanmerkungen versehen, heraus.
Ausgaben
Zu Lebzeiten Strawinskys erschien keine Ausgabe. Keiner der nachfolgenden Drucke ist autorisiert.
K Catalog: Annotated Catalog of Works and Work Editions of Igor Strawinsky till 1971, revised version 2014 and ongoing, by Helmut Kirchmeyer.
© Helmut Kirchmeyer. All rights reserved.
http://www.kcatalog.org and http://www.kcatalog.net