K27 Etude
pour pianola – Studie für Pianola – Study for pianola – Studio per Pianola
Pianola: Unter Pianola (Phonola) versteht man ein pneumatisch über Lochkarten gesteuertes Automatophon aus der Familie der elektrischen Klaviere. Zwischen dem Pianola und dem Phonola gibt es praktisch keine Bauunterschiede. Die Namen Pianola und Phonola beziehen sich auf unterschiedliche Produktmarken konkurrierender Firmen, wobei dem Pianola dank einer andersartigen künstlerischen Geschäftsstrategie der größere historische Stellenwert zukommt. Organologisch streng genommen ist das Pianola kein elektrisches Klavier, weil die gesamte Tongebung über pneumatische Bälge gesteuert und nur der Motor elektrisch betrieben wird. Die erste künstlerisch gültige Aufzeichnung gespielter Musik geht auf eine Erfindung der in Freiburg ansässigen deutschen Firma Welte & Mignon zurück, der es im Jahre 1904 gelang, mittels Einsatz eines Lochstreifens das Klavierspiel eines Pianisten so vollkommen festzuhalten, dass nicht nur Tondauer und Tonhöhe, sondern auch die originale Dynamik und Agogik bis in die feinste Abstufung hinein wiedergegeben werden konnten. Dieses Welte-Mignon-Verfahren setzte sich weltweit durch. Es entstanden zahlreiche Firmen, und es gibt zwischen dem Jahrhundertanfang und dem Ende der zwanziger Jahre so gut wie keinen bedeutenden Pianisten, der nicht sein Spiel über Lochstreifen festgehalten hätte. Darüber hinaus sahen viele zeitgenössische Komponisten in dem Aufnahme- und Wiedergabe-Instrument ein lang ersehntes Mittel, ihre Musik der Nachwelt authentisch zu überliefern. Mit dem Aufkommen der Schallplatte verloren die selbstspielenden Klaviere ihre künstlerisch wichtigste Funktion. Es war der 1874 geborene englische Musikwissenschaftler Edwin Evans, der im Herbst 1917 der Direktion der Londoner Firma Aeolian den Vorschlag unterbreitete, das Pianola nicht nur zur Wiedergabe bereits komponierter Musik einzusetzen, sondern zeitgenösssische Komponisten dafür zu gewinnen, Musik unmittelbar für das Automatophon zu schreiben. Am 22. September 1917 unterrichtete er Strawinsky, mit dem er seit 1913 bekannt war, über seinen Vorstoß bei der Direktion. Da sich Alfredo Casella gerade in London aufhalte, sei ihm die Erlaubnis erteilt worden, mit dem Italiener über eine derartige Komposition zu verhandeln. Er bat Strawinsky, sich etwas Ähnliches zu überlegen, und wenn er interessiert sei, werde er das Weitere für ihn besorgen. Ferner habe er der Direktion nahe gelegt, bestehende Kompositionen zeitgenössischer Komponisten für Pianola einzurichten. Die Verbindung zwischen Strawinsky und Evans war kriegsbedingt seit dreieinhalb Jahren abgerissen. Seit der Oper Le Rossignolund den japanischen Liedern hatte Evans nichts mehr von Strawinsky gehört, wohl aber Kenntnis einiger bei Adolphe Henn verlegter kleiner Stücke bekommen, die er gerne besitzen wollte. Es kann sich hier nur um die vierhändigen Kompositionen, die Katzenwiegenlieder oder die Pribautkihandeln. Evans war der Meinung, es sei höchste Zeit, dass sich Strawinsky in England mit Aufführungen zurückmelde. Strawinsky war aus mancherlei Gründen von der Sache sehr angetan und schrieb, für seine Verhältnisse ungewöhnlich schnell, vermutlich um Casella zuvorzukommen, die Etude pour Pianola.Von dem Umstand, dass Evans auch andere Komponisten für das Pianola zu gewinnen suchte, wird er weniger erfreut gewesen sein.
Erfolgsaussichten: Erfolg und Hoffnung auf geschäftlichen Erfolg können nicht besonders groß gewesen sein, weil anders nicht die Londoner Firma beinahe 4 Jahre hätte ins Land gehen lassen, bevor sie die Pianola-Rollen auf den Markt brachte.
Stil: Unabhängig von dem zentralen Anliegen, eine Komposition authentisch zu überliefern, das ihn ganz allgemein pianolafreundlich sein ließ, nötigte Strawinksy der Firmenauftrag, nach einer Kompositionsidee zu suchen, die sowohl instrumentengerecht, in diesem Falle pianolagerecht, wie zeitentsprechend war. Was lag in diesem besonderen Falle näher, als sich mit dreitönigen Kadenzen, pianolaübertragenen Koloraturen auf spanische Art und dem Klanggewirr des nächtlichen Madrider Rummels zu entsinnen und das bruitistische Durcheinander mechanischer Spielinstrumente in einer eigenen kleinen Komposition einzufangen, mit Verfremdungen spanischer Singweise zu versetzen und mit diesem Beitrag auf (s)eine ganz andere Weise ausdrücklich Glinka nachzueifern. Die Pianola-Studie übernimmt Elemente der Española aus den fünf leichten Stücken und des Königsmarsches aus der Geschichte vom Soldaten.
Widmung: Nach Paul Collaer wurde die Studie Madame Eugenia de Errazuriz gewidmet.
Dauer: 2' 45".
Entstehungszeit: Le Diablerets / Morges Sommer 1917 bis 28. Oktober 1917. Es ist möglich, dass sich die Einrichtung für Pianola noch über den 10. November 1917 hinauszog.
Uraufführung: am 13. Oktober 1921 in der Londoner Aeolian Hall.
Entstehungsgeschichte: Die genauere Datierung der Entstehungszeit der Studie für Pianola wirft Fragen auf, weil Strawinsky die Kopie des neuen Werkes einem Brief an Evans vom 28. Oktober 1917 beilegte, er andererseits eine sechssystemige Particell-Skizze, die sich heute im Paul Sacher-Archiv von Basel befindet, mit 10./11. 1917 datierte. Da Strawinsky damals noch nicht nach englischer Art mit vorangestellter Monatszahl datierte, müsste das heißen, dass er sich verschrieben, mit der 11 einen Tag, statt einen Monat oder gegebenenfalls doch mit der 10 einen Monat und keinen Tag gemeint hat. Denn dass er Evans ein Manuskript geschickt und dann selbst noch bis zur Vertragsbildung weiter gearbeitet oder das Stück auf 6 Systemen eingerichtet haben soll, ist höchst unwahrscheinlich. Craft druckte ein Fragment eines nicht datierbaren Briefentwurfs ab, in dem es heißt, er sei dabei, einige Seiten in einem Spezialarrangement herzustellen, und er sende diese Seiten in etwa 10 Tagen ab. Dieser Briefentwurf klingt aber so, als bezöge er sich nicht auf die Pianola-Studie, sondern möglicherweise auf die Petruschka-Einrichtung, für die er eine kleine Liste von Metronomzahlfehlern und anderen Dingen zusammengestellt hatte. Am 11. November 1917 allerdings war das Manuskript noch nicht in Händen von Evans. Was die Deutschen damit zu tun gehabt haben sollen, bleibt unerfindlich. Evans schrieb am 11. November an Strawinsky, er vermute, das Manuskript befinde sich noch beim Zensor, was ihn deshalb nicht erstaune, als die „boches“ inzwischen ihrer eigenen Musik misstrauten. Eine Anmerkung Crafts zu diesem Bezug besagt, das Manuskript sei zwei Tagen später, also am 13. November 1917, bei Evans eingetroffen.
Zur Klärung der sich widersprechenden beiden Aussagen müsste herausgefunden werden, ob es vor dem Brief von Edwin Evans an Strawinsky vom 22. September 1917 einen früheren Brief Strawinskys an Edwin Evans gegeben hat, in dem er seine Pianola-Studie anbot. Ein solcher Brief ist auch von Craft nicht dokumentiert worden.Im März 1916 reiste Strawinsky zum ersten Mal nach Spanien, um sich in Madrid mit Diaghilew zu treffen, der von seiner Nordamerika-Reise wohlbehalten zurückgekehrt war, aber noch voller Angst vor den deutschen Unterseebooten steckte. Die Deutschen hatten herausgefunden, dass es sich bei dem italienischen Passagierschiff, das ihn heimbrachte, in Wahrheit um einen der vielen zivil getarnten, von den Amerikanern für England oder Frankreich bestimmten Munitionstransporter handelte, und wollten das Schiff versenken. Über seine spanischen Erlebnisse und Eindrücke schrieb Strawinsky in den kalenderbiographischen Erinnerungen ausführlicher als es sonst seine Art war. Noch ganz futuristisch von Geräuschklängen fasziniert, mit denen Strawinsky 1915 zusätzlich vertraut wurde, als er Russolos Russolophon bewunderte, war er „ durch das drollige und unerwartete musikalische Durcheinander der mechanischen Klaviere und Musikautomaten in den nächtlichen Straßen und kleinen Tavernen von Madrid“ so beeindruckt worden, dass ihn der Vorschlag, ein Stück für Pianola zu schreiben, unabhängig von allen anderen Gründen auch deshalb besonders begeisterte, weil er darin eine Möglichkeit sah, die Welt der mechanischen Musikinstrumente in einer Komposition für ein mechanisches Musikinstrument zu beschwören. Diese Idee bot sich an. Sie war schon mit klassischem Instrumentarium und auch von anderen Komponisten an dazu passenden Stellen entwickelt, aber noch nie auf ein mechanisches Instrument rückbezogen worden. Als dann die Londoner Firma Aeolian Company1917 an ihn mit der Bitte um eine Originalkomposition für Pianola herantrat, erfüllte er diesen Wunsch um so lieber, als er auf diese Weise die ihn besonders berührenden Eindrücke seiner ersten Spanienreise niederlegen und gleichzeitig eine in ihrer Art gänzlich neuartige Komposition liefern konnte. Die Anregung dazu kam mit Brief von Edwin Evans vom 22. September 1917. Der englische Musikwissenschaftler Edwin Evans (1874-1945), war es, der Strawinsky mit Aeolian in Berührung brachte. Das Medium Pianola kannte Strawinsky, nachdem er einer Pianola-Vorführung durch die Londoner Firma im Sommer 1914 beigewohnt hatte. Am 28. Oktober 1917 schickte er das Manuskript an Evans ab, der es infolge der Kriegsläufte erst am 13. November erhielt. Es ist trotz einer erhaltenen Skizze auszuschließen, dass Strawinsky noch nach diesem Datum an der Studie kompositorisch gearbeitet hat. Strawinsky entwickelte die Studie als Stück für zwei Klaviere, wie erhaltene Skizzen beweisen, und schrieb sie dann auf einem Sechslinien-Particell mit 4 Diskant- und 2 Basssystemen aus. Die Einrichtung für Pianola erfolgte durch hauseigene Spezialisten, zu denen beispielsweise die von Philip Heseltine, dem Besitzer von Aeolian, sehr geförderte Esther Willis gehörte. Die Techniker bekamen bei der Übertragung der Strawinsky-Musik auf die Lochstreifen offensichtlich Probleme. Die originale Partitur war für das, was sie bisher gemacht hatten, zu kompliziert, so dass von einer Differenz zwischen Original und mechanischer Realisierung ausgegangen werden muss, zumal Strawinsky alle Register des Pianolas ausnutzte und die Akkorde in einer Weise füllig setzte, wie sie nur mit den Möglichkeiten eines elektrischen Klaviers zu erzielen waren. Auch soll Strawinskys Pianola-Studie unter der technischen Schwierigkeit gelitten haben, Einzeltöne länger auszuhalten. Demgegenüber ist anhand des erhaltenen Bestandes an Pianola-Rollen festzustellen, dass Strawinskys Komposition jedenfalls aus späterer Sicht keineswegs zu den technisch aufwendigsten oder auch nur technisch problematischsten Stücken zählt. Die von Strawinsky überlieferten Schwierigkeiten können sich also nur auf Probleme bezogen haben, die ihren Grund in der Neuheit der Einrichtung hatten und mit zunehmender Erfahrung vor allem mit aufwendiger entworfenen Kompositionen gegenstandslos wurden. Mit der Zusendung des Stückes an Evans am 28. Oktober 1917 forderte Strawinsky neben einem Honorar von 500 Schweizer Franken für sich das Recht, seine Studie jederzeit für ein anderes Ensemble umschreiben und die Autorenrechte an einer solchen Bearbeitung, Veröffentlichung und Aufführung zu behalten. Für das Honorar durfte die Firma das Stück auf Pianola oder andere mechanische Instrumente übertragen und erhielt damit das Veröffentlichungsrecht. Darüber hinaus verzichtete er auf eine finanzielle Beteiligung an den Einnahmen aus der Vorführung der Rollen. Die jetzt im Detail zu führenden Vertragsverhandlungen stießen auf Schwierigkeiten. Zwar war die englische Firma Orchestrelle Company im Grundsätzlichen einverstanden, doch nach den Vorschriften des englischen Rechtes ergaben sich immer wieder neue Probleme. Ob das der Grund dafür war, dass das Stück erst 1921 herausgebracht wurde, obwohl Evans mit Brief vom 17. November 1917 zugesichert hatte, die Rolle erscheine so bald wie möglich, was zeitbezogen hieß, in der Endphase des Ersten Weltkrieges, lässt sich ohne Akteneinsicht nicht sagen. Evans schrieb ferner, es müsse sichergestellt sein, dass es sich bei dem Betrag von 500 Schweizer Franken um eine Einmalzahlung für die Pianolastudie handele und die Gesellschaft damit keine Bindung für die Zukunft eingehe, die vom Erfolg dieses experimentellen Wagnisses abhänge. Am 24. November 1917 verfasste Strawinsky einen Probeentwurf für den entscheidenden Passus des immer noch nicht geschlossenen Vertrages. Danach sollte die Firma 500 Schweizer Franken zahlen, dafür das Verwertungsrecht für mechanische Instrumente erhalten, aber offensichtlich nur für Vorführungen im privaten, nicht im öffentlichen Bereich, Strawinsky weiterhin berechtigt sein, eine andere Fassung herzustellen und zu verkaufen. Evans antwortete am 11. Dezember 1917 mit neuen Bedenken. Strawinskys neue Forderungen schüfen weitere Schwierigkeiten und brächten nur minimale Erträge. Evans war das alles zu kompliziert. Er riet Strawinsky, auf diesen Punkt zu verzichten und die Summe von der Gesellschaft in Verbindung mit einem ganz einfachen Vertrag anzunehmen. Wenn die Sache Erfolg habe und man diese Art von Musik durchsetzen könne, vermöchte er zukünftig vorteilhaftere Bedingungen erfahren, aber bis dahin müsste er noch ein bisschen warten. Nun liefen zur selben Zeit die Verhandlungen über die Einrichtung von Petruschkaund Sacrefür Pianola. Die englische Gesetzgebung erlaubte die tantiemefreie mechanische Vervielfältigung von Werken der Tonkunst, wenn diese erst einmal erschienen waren. Aus einer solchen Produktion konnte ein Komponist keine finanziellen Rechte ableiten. Es muss zwischen Äolian (Orchestrelle Company) und Strawinsky zu für Strawinsky unverständlichen Disputen über die Abtretungsrechte gekommen sein, so dass Strawinsky über seinen Genfer Anwalt Philippe Dunant verhandelte. An Petruschkasicherte man ihm zweieinhalb Prozent, an Sacrefünf Prozent pro verkaufter Rolle zu, wobei das erste Ballett nie bei Aeolian, sondern bei Pleyela erschien, das zweite bei Pleyela und Aeolian Company. Die Sache zögerte sich immer weiter hinaus und das Fragment eines Briefes Strawinskys an Ernest Ansermet vom 6. Juni 1919 zeigt das ganze Ausmaß der Verärgerung, die bei Strawinsky inzwischen eingetreten war. Doch kam es als Folge der mit Aeolian aufgenommenen Beziehungen 1923 zu einem festen Vertrag, der ihn veranlasste, einen großen Teil seiner gedruckten Stücke ganz oder in Ausschnitten für Pianola-Wiedergabe umzurüsten, was er bereits seit zwei Jahren in der Pariser Maison Pleyelin einem eigenen Studio betrieb, wie er am 18. August 1921 in einem Brief an Charles-Ferdinand Ramuz festhielt und dabei stolz mitteilte, die Sache interessiere ihn sehr und er habe einige besondere Tricks erfunden. Für Pianola beziehungsweise Pleyela erschienen in der Folge die Klavier-Etüden Op. 7, Feuervogelmit einer autobiographischen Skizze über Strawinskys Leben im Jahre 1910 mit einer literarischen und musikalischen Analyse und in einer vollständigen, von Strawinsky gespielten Wiedergabe des Balletts, Le Sacre du Printemps, der erste, von Strawinsky gespielte Satz des Klavierkonzertes, ebenfalls der erste, von Strawinsky gespielte Satz der Klaviersonate 1924 mit Anmerkungen von Edwin Evans, Pulcinella, die Piano-Rag-Music, sowohl die drei wie die fünf leichten vierhändigen Stücke, Petruschka, D ie fünf Finger, der Gesang der Nachtigall, die Geschichten für Kinder, die Vier russischen Lieder, das Concertinound Les Noces Villageoises.
Tabelle der Strawinsky-Transkriptionen für selbstspielendes Klavier
a) Duo-Art (Aeolian)
Klavier-Etüden Op. 7 Pianola T 22596A
Pianola T 22597B
Pianola T 22598A
Pianola T 22599B
Feuervogel* Duo-Art D 759
Duo-Art D 761
Duo-Art D 763
Duo-Art D 765
Duo-Art D 767
Duo-Art D 769
Pianola D 760
Pianola D 762
Pianola D 764
Pianola D 766
Pianola D 768
Pianola D 770
Frühlingsweihe Pianola T 24150/53C
Studie für Pianola Pianola D 967B
Klavierkonzert** Duo-Art D 528G
Klaviersonate*** Duo-Art D 231
Pianola D 232
* Eine autobiographische Skizze über Strawinskys Leben im Jahre 1910 mit einer literarischen und musikalischen Analyse und einer vollständigen, von Strawinsky gespielten Wiedergabe des Balletts.
** nur der 1. Satz, gespielt von Strawinsky.
*** nur der 1. Satz, gespielt von Strawinsky, mit Anmerkungen von Edwin Evans.
b) Pleyela
Pulcinella 8421-8428
Sacre 8429-8437
Piano-Rag-Music 8438
Drei leichte Stücke 8439
Fünf leichte Stücke 8440
Petruschka 8441-8447
Die Fünf Finger 8448-8449
Chant du Rossignol 8451-8453
Geschichten für Kinder 8454
Vier Russische Lieder 8455
Concertino 8456
Les Noces Villageoises 8431-8434
Situationsgeschichte: Das Interesse am Pianola steht ebensosehr in Verbindung mit dem aktuellen Anlass wie mit Strawinskys Streben nach unbedingter Authentizität, das ihn damals (später änderte sich auch dieses) fast jeden Interpreten als Störer der Originalidee erfahren ließ, sofern er nicht die Klangvorstellung des Autors unter dessen Aufsicht wiedergibt. Man ging dabei so weit, das italienische Wortspiel „traduttore-traditore“ (Übersetzer-Verräter) auf den reproduzierenden Musiker zu übertragen. Als einziges Demonstrationsmittel zur Überlieferung der eigenen Kompositionsidee in authentischer Fassung gab es damals nur das Pianola, und so sind etliche seiner Kompositionen in der Zeit vor der Schallplatte auf Pianolawalzen erschienen. Strawinsky war keineswegs der einzige Komponist, der mit diesem Gedanken umging. Die Berliner Versuche Paul Hindemiths oder anderer Komponisten (Ernst Toch, Joseph Haas), unmittelbar auf Walze oder nachher auf Wachsplatte zu notieren und dabei Klangbilder zu erzeugen, die neben ihrer Authentizität am herkömmlichen Tasteninstrument grifftechnisch nicht möglich sind, gehören ebenfalls hierhin. Sie zählen heute zu den Vorläufern der elektronischen Musik. Das eigentliche Pianolaproblem erledigte sich mit dem Aufkommen der Schallplatte. Schließlich verfolgte Strawinsky nach dem Sacrestreckenweise einen stark rhythmisch geräuschorientierten Stil, ohne Futurist zu sein, wie Balla, dem er im Entstehungsjahr der Studie begegnete. Zur selben Zeit wie die Pianolastudie hatte er kompositorisch bereits den größten Teil des Projektes Les Nocesfertiggestellt, bei dem ihm vorschwebte, eine Partitur für „polyphone Einheiten“ zu schreiben, also mechanische Musikinstrumente wie elektrisches Klavier und elektrisches Harmonium mit Vokalstimmen und herkömmlichen Orchesterinstrumenten zu verbinden, was sich kurze Zeit später als undurchführbar herausstellte. Als die Dinge dann nicht so liefen, wie sich Strawinsky das vorstellte und woran Evans mit Sicherheit am wenigsten die Schuld trug, trafen Evans die in solchen Fällen üblichen negativen Kommentare. In seiner Briefanthologie charakterisierte Craft Evans als einen frühen Freund Strawinskys. Seine in der Frühzeit über Strawinsky geschriebenen Arbeiten hätten die Zustimmung Strawinskys gefunden. In einem Brief Strawinskys an Ansermet vom 6. Juni 1919 liest man es etwas anders, charakterisierte Strawinsky Evans als einen zwar rechtschaffenen ( brave ), aber, so definierte er seinen Begriff von brave in der nachfolgenden Klammer, naiven und wenig intelligenten Menschen ( naïve et pas très intelligent ), was Strawinsky nicht hinderte, ihn kurze Zeit später den Feuervogel-Kommentar zur Pianola-Feuervogel-Einspielung schreiben zu lassen. Aber zum Zeitpunkt des Briefes an Ansermet war bereits der Streit über die Ideenpriorität entbrannt. Niemand habe ihm einen Auftrag zur Komposition der Pianola-Studie gegeben. Vielmehr habe Evans von der Existenz dieses Stückes aus einem Brief erfahren, den er ihm im Herbst 1917 mit der Bitte geschrieben habe, ihm dafür zu einem Verleger zu verhelfen. Bald danach sei Evans die seltsame Idee ( drôles d'idées ) gekommen, in einer kurzen Zeit ein ganzes Pianola-Repertoire aufzubauen, um darüber Vorträge zu halten und sich in der Öffentlichkeit als der Urheber der Sache darzustellen. Strawinsky versicherte ( Je déclare = Craft übersetzt „déclare“ mit swear = schwören, was gewiss sinnunangemessen ist), niemand habe ihm einen Kompositionsauftrag erteilt und dies gehe einwandfrei aus seinem Vertrag mit Aeolian hervor. Casellas Teilnahme an dieser Sache beweise deutlich die finesse von Evans, der diesen Auftrag besorgt habe, wobei es Ansermet überlassen blieb, das brave und die finesse von Evans zusammenzubringen. Natürlich hat Evans keinen Auftrag an Strawinsky erteilt, dazu war er vermutlich auch gar nicht berechtigt. Gesichert ist, dass man mit Casella früher als mit Strawinsky verhandelte, und dass man Casellas Komposition auch vor derjenigen Strawinskys publizierte. Richtig ist schließlich, dass Evans Strawinsky von seinem Bestreben in Kenntnis setzte, eine solche Pianola-Reihe ins Leben zu rufen, mit Casella dieserhalb verhandelt zu haben und ihn deutlich genug aufforderte, sich an ihn zu wenden, wenn er an der Sache interessiert und bereit sei, ein wenig auf die Besonderheiten des Pianolas Rücksicht zu nehmen. Das klingt nicht nach Antwort auf einen vorangegangenen Brief. Aber Strawinskys Brief vom 28. Oktober 1917 klingt ebenfalls nicht nach Auftragserfüllung, sondern tatsächlich nach einem Angebot unter Bedingungen, wie es Strawinsky Ansermet gegenüber dargestellt hat, allerdings ohne eine Bitte an Evans, sich für ihn um einen Verleger zu bemühen, weil der Verleger ja längst bekannt ist. Umgekehrt könnte der ideenreiche Strawinsky auch unabhängig von Evans durchaus darauf verfallen sein, für das Pianola eine eigene Komposition zu entwickeln. Glaubhaft ist es auch, dass ein um seine Sonderstellung fürchtender Strawinsky gegen eine Reihe gewesen ist, in der er ein Name unter vielen anderen und vermutlich sehr minderrangigen gewesen wäre. Aber solange keine anderen Beweisstücke auftauchen oder die Beweisstücke in der datierten Reihenfolge nicht in Frage gestellt werden können, ist davon auszugehen, dass 1. Evans Strawinsky über die Möglichkeit der Herstellung einer oder mehrerer Kompositionen für Pianola unterrichtete und schon vorher in derselben Sache mit Casella verhandelte; 2. Strawinsky keinen Auftrag, wohl eine Anregung oder eine Einladung erhielt; 3. Strawinsky, ohnehin auf der Suche nach neuen Verlegern und neuen Erwerbsquellen die Gelegenheit nutzte, in England wieder ins Gespräch zu kommen und eine frische Komposition anbot; 4. Strawinsky sehr schnell reagierte, was drei getrennte oder gemeinsame Gründe gehabt haben kann: a) er hatte eine vorbereitete Komposition zur Hand; b) er brauchte Geld; c) er wusste, dass der leichter schreibende Casella mit im Spiel war, und er wollte früher als dieser sein Stück anbieten, was ihm ja auch gelang. Der Vertrag, auf den sich Strawinsky Ansermet gegenüber berief, bildet deshalb keinen Beweis, weil er erst nach der Ablieferung des Manuskriptes geschlossen wurde. Vermutlich war es der Hinweis auf Casella, der Strawinsky veranlasste, seine Arbeit für seine Verhältnisse so außergewöhnlich schnell fertigzustellen. Tatsächlich kam er Alfredo Casella um einige Monate zuvor und sicherte sich damit den Ruhm der Priorität. In einem Brief Casellas an Strawinsky vom 1. Dezember 1917 bestätigte Casella, dass man ihn während seines Aufenthaltes in England zu mehreren Pianola-Stücken eingeladen habe, mit denen er sich seitdem beschäftige. Aber Casella kam zu spät. Seine kleine aus Präludium, Walzer und Ragtime bestehende Suite Tre pezzi per Pianolaerschien 1918. Den Glückwunsch des ihm freundlich gesinnten Casella nahm Strawinsky gewiss mit Genugtuung entgegen.
Bedeutung: Die Etude pour pianolaist die erste unmittelbar für ein elektromechanisches Instrument geschriebene Komposition der Musikgeschichte.
Fassungen: Die Etude pour pianolawurde spätestens 1929 instrumentiert und mit dem Untertitel Madridals vierte Nummer in die Quatre Études pour Orchestreaufgenommen. Davon fertigte Soulima Strawinsky eine Klavierübertragung für zwei Klaviere an, die 1951 bei Boosey & Hawkes erschien. Die Klaviertranskription erfolgte nicht nach der Pianola-Fassung, sondern als Klavierauszug der vierten Orchester-Etüde.
Historische Aufnahme: Pianola T 967 B von 1921.
CD-Edition: nur als Orchesterfassung als vierte der Vier Orchester-Etüden.
Autograph: Das Manuskript ging an die Widmungsträgerin Madame Eugenia Errazuriz. Strawinsky schenkte ihr bei selbiger Gelegenheit auch das Skizzenbuch der Fünf leichten vierhändigen Stücke. Da Strawinsky als Russe zu der Zeit von der Schweiz aus Frankreich nicht betreten durfte, erfolgte die Übersendung durch Alfred Cortot, der damals eine Art von Unterstaatssekretär im Pariser Kunstministerium war. Der Brief sagt nichts darüber aus, ob Frau Errazuriz das Autograph oder eine Reinschrift des für London bestimmten Manuskriptes erhielt, oder ob Strawinsky das Manuskript für London kopierte, da es keine Druckfasssung gibt. Vermutlich hat Strawinsky mehrere Abschriften hergestellt oder herstellen lassen und eine davon an Errazuriz, eine andere nach London geschickt und eine weitere selbst behalten. Dieses Exemplar, das, nach Robert Craft, Strawinsky 1917 noch gehabt haben muss, müsste dann verschollen sein, weil es sich nicht mehr im Nachlass befand. Strawinsky selbst besaß nach 1918 kein Exemplar mehr.
Verlag: The Aeolian Company Ltd., London, als Pianola-Rolle T 967 B [1921].
K Catalog: Annotated Catalog of Works and Work Editions of Igor Strawinsky till 1971, revised version 2014 and ongoing, by Helmut Kirchmeyer.
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