K093 Drei Geistliche Gesänge

english K093 Tres Sacrae Cantiones

K93 Tres Sacrae Cantiones

by Carlo Gesualdo di Venosa, completed by Igor Stravinsky for the 400th Anniversary of Gesualdo’s birth – Drei Geistliche Gesänge von Don Carlo Gesualdo, Fürst von Venosa, vervollständigt von Igor Strawinsky aus Anlaß des vierhundertsten Jahrestages von Gesualdos Geburt – Tre Canti sacri di Don Carlo Gesualdo, Principe di Venosa, completati da Igor Strawinsky per il quarto centenario della sua nascita

Besetzung: I: Cantus, Altus, Quintus, Sextus*, Tenor, Bassus** ; II: Cantus, Altus, Quintus***, Sextus***, Tenor, Bassus** ; III: Cantus, Sextus**, Altus, Septima pars, Tenor, Quintus, Bassus**.

* durch kanonische Angaben im Notentext als resolutio verbindlich rekonstruiert.

** Ergänzungsstimmen Strawinskys.

*** durch kanonische Angaben rekonstruierbare Ergänzungsstimmen, widersprüchlich bei Strawinsky und Watkins.

Inhaltsangabe: Da pacem Domine ist eine Friedensbitte, wie sie liturgisch an vielen Stellen in Offizium und Messe angesiedelt ist. Sie steht in der nachtridentinischen Messe, gegenüber der Gesualdo-Motette textlich abgewandelt, zwischen Pater noster und Agnus Dei. Es gibt mehrere Fassungen, eine davon Da pacem Domine, sustinentibus te . . . (Gib Frieden, o Herr, denen, die auf Dich harren . . .) bildete in der tridentinischen Messe die Introitus-Antiphon zum 121. Psalm Laetatus sum (Ich ward froh) der Messe vom 18. Sonntag nach Pfingsten und ist eine christologische Abwandlung von Sirach 36,18. In der Form, in der Gesualdo sie verwertet, gilt sie als eine mittelalterliche Antiphon, die in der römischen Kirche erst nach 1934 außer Gebrauch kam. Das Antiphonale Romanum von 1924 führte sie noch unter der Rubrik Cantus varii im Rahmen einer Reihe beliebter Gesänge in honorem Sanctissimi Sacramenti und Beatae Mariae Virginis, pro pace und in Verbindung mit anderen Festen des Kirchenjahres. Die Folgeausgabe von 1934 enthält den Gesang nicht mehr, dessen Funktion und philosophische Aussage (man kämpft nicht für, sondern gegen etwas) Probleme aufwerfen. Die Bezeichnung Antiphon verweist auf einen Rahmengesang, zu dem dann allerdings ein Psalm gehören müsste oder wenigstens die Möglichkeit eines Wechselsingens. Beides trifft für die kleine Melodie nicht zu. Für die seelische Verfassung Gesualdos (1560-1613) im Jahre 1603 stand ohnehin vermutlich nur der Textinhalt einer Bitte um inneren Frieden im Vordergrund. – Assumpta est Maria ist die einleitende Marien-Antiphon der beiden Vespern des Offiziums vom Fest 15. August der Aufnahme Mariens in den Himmel In festo Assumptionis B. M. V. *, für die 1. Vesper auch als Responsorium breve ausgelegt, die ebenfalls in den Kleinen Horen und in abgewandelter Text-Form als Vers im Alleluja der Messe desselben Tages gesungen wird. Sie handelt von der Freude der Engel über die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel. – Illumina nos bittet Gott um Erleuchtung durch die siebenfache Gnade des Trösters, um die Finsternis der eigenen Vergehen verlassen und in die Herrlichkeit des ewigen Lebens eingehen zu können. Die Herkunft des Motetten-Textes Illumina nos ist noch ungeklärt. Er ist jedenfalls nicht aus dem mittelalterlich-christlichen Gebetsbestand genommen. Vermutlich hat man ihn im neulateinischen Umfeld von 1600 anzusiedeln. Dabei ist die Überlegung nicht abwegig, in Gesualdo selbst den Verfasser zu sehen. Der Text paßt zur vorauszusetzenden Seelennot eines Mannes, der sich aus Furcht vor der Rache der Carafa-Angehörigen** in seine Burg einschließt und durch die mit ihm in Verbindung stehenden Tötungsdelikte an Frau, Kind und Rivalen ebenso wie durch die gescheiterten Lebensbeziehungen in eine Gemütsverdunkelung gerät, aus der es keinen säkularen Ausweg mehr gibt. Nicht ohne Grund dürfte Illumina nos in seine Motettensammlung als letztes Stück eingestellt worden sein, als ein Schlußstück, mit dem der Verfasser um Hilfe aus der Qual der Verfehlungen bittet.

* B. M. V. = Beatae Mariae Virginis.

** siehe Kapitel ‚Vorlage’, Anmerkung *.

Vorlage: Zum geselligen Musizieren bestimmte Kompositionen wurden zur Gesualdo-Zeit in Stimmbüchern gedruckt, die eine Sammlung von Stücken jeweils in einer Stimmlage und ohne Taktstricheinteilung enthielten und aus denen gleicherweise Sänger wie Instrumentalisten sangen und spielten. Ausschließlicher Stimmendruck für Kammer- und Orchestermusik war bis weit in das 18. Jahrhundert hinein gebräuchlich, Partiturdruck noch bis 1590 selten. Gesualdos neu aufgelegte Madrigale gehörten zu den ersten in Partitur gebrachten Werken. Eine Gesualdo-Musik wird daher aus Stimmbuchdrucken rekonstruiert. Der Verlust eines einzelnen Stimmbuches bedeutet den Verlust einer vollständigen Satzstimme. Die Proben Gesualdoscher Musik, die Strawinsky seit 1952 zu Gesicht bekam, enthielten im Bereich der Bass- und der Sextus-Stimmen Lücken. Sie zu schließen war mit einer der Zwecke von Strawinskys „Rekompositionen". –

Im Jahre 1603 veröffentlichte Gesualdo di Venosa (1560-1613), dessen Musik wegen ihrer auf die damalige Griechenbegeisterung zurückzuführenden chromatischen Farbigkeit als versuchte Wiederbelebung der griechischen Tongeschlechter des Chromatischen und Enharmonischen unter den wiederentdeckten alten Meistern immer eine Sonderrolle gespielt hat*, zwei Bände mit Motetten über geistlich-liturgische Texte. Der zweite Band, der wie der erste „Liber primus“ heißt („ Sacrarum cantionum liber primus quorum una septem vocibus, caeterae sex vocibus “) enthält 19 sechs- und eine siebenstimmige Motette. Er erschien in Stimmbuchform ohne Takteinteilung, die siebenstimmige Motette Illumina nos war die letzte der Sammlung. Der Stimmbuchdruck wurde von Don Giovanni Pietro Capuccio herausgegeben und von Constantino Vitali in Neapel gedruckt. Die Motetten sind in ihrer Reihenfolge nicht numeriert, ihre Anordnung scheint zufällig und nicht charakterisiert. Mehr als ein Viertel des Bestandes besteht aus Marientexten. Von den Motetten gibt es offensichtlich nur die einzige, noch dazu unvollständig erhaltene Stimmbuchdruck-Erstausgabe von 1603, die vom Oratorio dei Filippini in Neapel verwahrt wird und bis zum Zeitpunkt der von Deutschland aus besorgten Gesualdo-Gesamtausgabe keinen einzigen nachweisbaren Nachdruck erfuhr. Die Motettensammlung, von der die Sextus- und Bassus-Stimmbücher verlorengegangen sind, wurde als fragmentarischer Torso im Rahmen der Gesualdo-Gesamtausgabe gedruckt und als neunter Band 1961 von Glenn E. Watkins im Hamburger Ugrino-Verlag veröffentlicht. Watkins nahm die Stimm-Ergänzungen Strawinskys so ernst, dass er sie in die Gesamtausgabe einstellte. Die Veröffentlichung der Tres Sacrae Cantiones in der Strawinskyschen Fassung bei Boosey & Hawkes 1960 beruht auf der Edition von Glenn E. Watkins im Ugrino-Verlag Hamburg und übernahm von dort auch das umtextierte Frontispiz und das Inhaltsverzeichnis der Originalausgabe von 1603. Zu diesem Zeitpunkt lag der 9. Band der Gesamtausgabe noch nicht gedruckt vor. Die Motetten-Auswahl Strawinskys hatte keine textlich-theologischen, sondern ausschließlich archivalische Gründe. Bei allen 20 Motetten sind Sextus und Bassus verloren gegangen; aber da die beiden Motetten Da pacem Domine und Assumpta est Maria in vorhandenen Stimmen kanonische Anweisungen enthalten, die es möglich machen, den Sextus jedenfalls eindeutig zu rekonstruieren, bilden sie eine Ausnahme. –

In der ersten Motette fehlen Sextus und Bassus. Vorhanden sind Cantus, Altus, Tenor und Quintus. Der Tenor trägt jedoch die Bezeichnung „Canon in Diapente“. Bei Auflösung erhält man eine weitere Stimme im Quintabstand zur Tenor-Stimme, deren kanonischer Einsatz durch ein signum congruentiae eindeutig festgelegt ist. Auf diese Weise erscheint der verloren gegangene Sextus als dritte Alt-Stimme, den man bei der kontrapunktischen Kunstfertigkeit der damaligen Sänger möglicherweise auch gar nicht mehr hätte eigens zu drucken brauchen, weil es eine in den Bratschen- = Alt-Schlüssel transponierte Tenor-Stimme auch getan hätte. Es fehlt also nur noch die Fundamentstimme, deren Rekonstruktion beim Vorliegen jetzt eines fünfstimmigen Stimmengeflechts so viele abweichende Möglichkeiten nun auch nicht mehr zulässt.

Etwas ähnliches gilt für die zweite Motette, wobei sich allerdings Strawinskys Druckausgabe und die Angaben im Revisionsbericht zu widersprechen scheinen. Hier fehlen von sechs Stimmen ebenfalls zwei, nämlich nach Watkins Sextus und Bassus, nach Strawinsky Altus, Quintus und Bassus. Der Quintus (nach Strawinsky der Sextus) ist ebenfalls mit einer Anmerkung, diesmal mit „Canon in Diapason et Diapente“ versehen, fordert also zur Bildung zweier neuer Stimmen, die eine im Oktav-, die andere im Quintabstand auf beziehungsweise charakterisiert sie kontrapunktisch. Im vorliegenden Falle hätte sogar der Tenor ohne Schaden für das Cantionum sacrum noch fehlen können, weil er auf Grund der Imitationsangabe auf dieselbe Weise und ebenfalls mittels eines signum congruentiae zeitdefiniert rekonstruierbar gewesen wäre. Wohl ergibt sich als neue Stimme der Sextus, nach Strawinsky Altus und Quintus. Es fehlt also auf jeden Fall auch hier nur der Bassus, für dessen Rekonstruktion dasselbe wie für die erste Motette gilt. –

In der dritten Motette Illumina nos fehlen ebenfalls wieder Sextus und Bassus. Beide sind allerdings nicht ableitbar. Da aber die 7. Stimme vorhanden ist, fand Strawinsky ein fünfstimmiges Notengeflecht vor, in das zwei weitere Stimmen, darunter die Fundamentstimme, einzubauen enge Grenzen setzte. In allen anderen sechsstimmigen Sätzen hätte er zwei zu vier Stimmen mit weit größerem Fehlerpotential gegenüber hier eine zu fünf beziehungsweise zwei zu fünf setzen müssen. Das dürfte der Grund gewesen sein, warum sich Strawinsky ausgerechnet für diese drei Motetten entschied, die in der nicht numerierten Reihenfolge des Originals an zweiter, zwölfter und zwanzigster Stelle stehen. – Bis hin zur Schütz-Zeit wurden die Lagenstimmen vom Verhältnis der gesungenen Stimme zur Fundamentalstimme des Tenors aus und gleichzeitig in Verbindung mit gattungsmäßig bezogenen historisch feststehenden Stimmkombinationen definiert. So bezeichnet Quintus in den mehr als vierstimmigen weltlichen und geistlichen Gesängen des 16. und 17. Jahrhunderts die zur feststehenden Lagenvierstimmigkeit (Sopran, Alt, Tenor, Bass) hinzutretende fünfte Stimme, die selbst keine neue Lage bildet, sondern nur eine vorhandene Lage verdoppelt oder erweitert. Ein Quintus, und in Ableitung davon ein Sextus (sechste Stimme), kann somit in jeder Lage angesiedelt sein, als zweiter Sopran (Discantus), Alt, Tenor oder Bass, und er wird entsprechend der ihm zugeordneten Lage geschlüsselt. Ausnahmen ergeben sich dort, wo zum Cantus als Sopran ein Mezzosopran oder zum Bass ein Bariton als höherer Bass tritt. Solche hinzutretenden Stimmen, weil sie neue Lagen bilden, erhielten eigene Schlüssel, der Mezzosopran den Mezzosopranschlüssel, der Bariton den Baritonschlüssel. In den beiden ersten Gesualdo-Motetten, die Strawinsky ergänzte, bildet der Quintus einen zweiten, der Sextus einen dritten Alt; in der dritten Motette Illumina nos dagegen bildet der Quintus einen zweiten Tenor, der Sextus einen zweiten Sopran. Diese Zählung ist aus der Sicht des 16. Jahrhunderts schlüssig, weil sie beim Tenor als der Zentralstimme ansetzt und anschließend vom Sopran aus weiterzählt und nur dann beim Sopran beginnt, wenn der Tenor nicht geteilt wird. Strawinsky hat also in den beiden ersten Motetten nur den Bass ergänzt, in der dritten mit dem Sextus und Bassus den Diskant als unterhalb des eigentlichen Soprans liegende zweite Sopranstimme, und wieder den Bass. In der dritten Motette heißt die originale siebente Stimme Septima pars und funktioniert als zweiter Alt. Diese Motette ist also für zweifachen Sopran (Sopran + 6. Stimme), zweifachen Alt (Alt + 7. Stimme), zweifachen Tenor (Tenor + 5. Stimme) und einfachen Bass geschrieben.

* Sein Leben als regierender Fürst, Abkömmling eines der vornehmsten spanisch-neapolitanischen Adelshäuser, Neffe des Kardinals Carlo Borromeo, Freund Torquato Tassos und Mörder seiner ihm ungetreuen Frau Maria aus dem Geschlecht der d'Avalos, ihres Liebhabers Fabrizio Carafa Herzog von Andria und, so wird es beweislos vermutet, seines möglicherweise illegitimen Töchterchens und seine als Folge der Mordtaten, der unglücklichen zweiten Ehe und Kindesverlusten einsetzenden Gemütsverdüsterung aus Gewissensbissen bildet(e) lediglich eine journalistisch willkommene biographische Zutat.

Aufbau: Bei den Tres Sacrae Cantiones handelt es sich um drei weder metronomisierte noch mit italienischen Vortragsbezeichnungen versehene geistliche Chorsätze im Motettenstil des ausgehenden 16. Jahrhunderts mit einem der Vokalpartitur untergedruckten, von Strawinsky selbst hergestellten Klavierauszug, der nicht mitgespielt, sondern nur zu Probezwecken benutzt werden darf (I Da pacem Domine [Aufriss: 54 Takte sechsstimmig, Bassstimme von Strawinsky einkomponiert]; II Assumpta est Maria [Aufriss: 49 Takte sechstimmig, Bassstimme von Strawinsky einkomponiert]; III Illumina nos [Aufriss: 74 Takte siebenstimmig, Zweiter Sopran = Diskant sowie Bassstimme von Strawinsky einkomponiert]).

Allgemeine Abweichungen: Die Zahl der Originalschlüssel wurde auf die heute beim Chorsatz gebräuchlichen Violin- und Bassschlüssel begrenzt. Strawinskys Vorzeichen gelten immer für den ganzen Takt, anders als in der wissenschaftlichen Gesualdo-Ausgabe, die alle Original-Akzidentien zur besseren Identifizierung jeder Notenwertstelle auch im selbstverständlichen Taktwiederholungsfall beibehält, weil bei nicht spartierter Musik ein Akzidenz nicht weiter als bis zu der Note selbst wirken kann, vor die es zu stehen kommt. Daher müssen in einer wissenschaftlichen Ausgabe mit Takteinteilung nicht akzidentierte Noten, die innerhalb eines Taktes einer akzidentierten Note folgen, ein nicht originales Auflösungszeichen erhalten. So verfährt auch Strawinsky. Die zugehörige Gesamt-Ausgabe weicht von diesem Verfahren ab, weil sie wegen der fehlenden Original-Stimmen nur fragmentarisch sein kann. Sie wiederholt identische Akzidentien innerhalb eines Taktes, betrachtet aber jede nicht mit einem Akzidenz versehene Note als Note mit Auflösungszeichen. - Die lateinische Orthographie von 1603 wurde auf die heutige hin umgeschrieben. Das gilt gleicherweise für Strawinsky wie für die Gesamtausgabe (Do-mi-ne statt original Do mi ne). - Anders als der Boosey-Druck, der die von Strawinsky ergänzten Motetten mit eingedruckten Taktzahlen im Fünferabstand versieht, verzichtet die Gesamtausgabe auf jegliche Zählung. Auch die hier wieder abgedruckten ergänzten Motetten Strawinskys erscheinen ohne Taktzählung. In den ersten beiden Motetten finden sich keine Abweichungen vom Original, sieht man von den generell gegenüber der Originalausgabe halbierten Notenwerten ab. In der dritten Motette gibt es einige kleinere Abweichungen, die von geringem Belang sind.

Einzelabweichungen: I Da pacem Domine: keine Änderungen II Assumpta est Maria: keine Änderungen III Illumina nos: unter Berücksichtigung der Neuausgabe in gegenüber dem Original halbierten Notenwerten steht in der Cantus-Stimme Takt 25 als letzte Note im Original eine punktierte ganze Note; die letzte Note von Takt 26 ist eine Halbe-Note; als letzte Note von Takt 54 steht ein e1; in der Altus-Stimme Takt 19 ist die erste Note original ein g1; in der Tenor-Stimme lautet die letzte Note von Takt 74 e; in der Quintus-Stimme ist sowohl in Takt 16 wie in Takt 17 die erste Note eine ganze Note, in Takt 17 die zweite Note eine halbe Note, in Takt 31 die letzte Note eine ganze Note, und Takt 49 besteht aus einer Doppelnote. Alle Angaben beruhen auf dem Revisionsbericht der Kritischen Gesamtausgabe, der sich ohne Seitenzählung [deutsch S. 98, englisch S. 99] im Nachspann der Ausgabe abgedruckt findet.

Abweichungen und Kritischer Bericht Gesamtausgabe: Die Revisionsberichtshinweise der Kritischen Gesamtausgabe auf die Strawinsky-Änderungen gegenüber dem Original erweisen sich im Einzelfall als wenig hilfreich. Die Herausgeber haben die drei Motetten in der Strawinsky-Fassung ohne Strawinskys Klavierauszugsunterlegung aufgenommen und nicht zusätzlich zur Originalfassung mitgeteilt. Da es außer der nicht spartierten und nur in einem einzigen Exemplar erhaltenen Urausgabe keine andere kritische Ausgabe gibt, entfallen Vergleichsmöglichkeiten, während gleichzeitig Fragen aufkommen, die der Revisionsbericht nicht beantwortet, weil er nur eine einzelne Originalgestalt verzeichnet, nicht aber die Veränderung und den Grund der Veränderung. An Stelle der punktierten ganzen Note im Cantus des Originals Takt 25 steht bei Strawinsky, wenn es denn die richtige Stelle ist, eine in eine Viertelnote übergebundene Achtelnote. Aus dem e1 der letzten Note von Takt 54 machte Strawinsky ein g1; im Altus Takt 19 aus der ersten Note g1 ein e1; im Tenor aus der letzten Note von Takt 74 aus e ein c. An anderer Stelle der Ausgabe wird gesagt, man habe offensichtliche Druckfehler des Originals stillschweigend, das heißt also ohne Quellennachweis, verbessert. Es wird nicht gesagt, ob es sich bei den Strawinskyschen Änderungen um das Ergebnis kompositorischer Überlegungen handelt oder ob sie zum Potential stillschweigend bereinigter Druckfehler gehören. Wenn Strawinsky aus einer original mit langer Zeitdauer versehenen Note eine kürzere macht, muss entweder das ganze Strukturgeflecht zusammenbrechen, oder er muss es neu auskomponieren. Das alles lässt sich weder feststellen, weil kein Original vorliegt, noch erklären, weil im Revisionsbericht nichts darüber gesagt, offensichtlich nicht einmal die Problemlage erkannt wird. Ein weiterer Widerspruch ergibt sich im Vergleich der Boosey-Ausgabe von 1960 mit dem Kritischen Revisionsbericht von Watkins. Im Strawinsky-Druck wird für die zweite Motette der Sextus als vorhanden ausgegeben und von ihm aus als in canon diapason et diapente zwei weitere Stimmen rekonstruierbar gemacht, nämlich Altus und Quintus. Nach dem Kritischen Bericht steht der Vermerk beim erhaltenen Quintus, der den verlorenen Sextus und den Tenor kanonisch definiert. Die Strawinsky-Angabe erscheint auf den ersten Blick einleuchtender, weil die Strawinskysche Altus-Diapason-Stimme und die Quintus-Diapente-Stimme nacheinander eintreten. Tatsächlich ist aber durchgängig die Sextus-Stimme verlorengegangen und es muss sich im Boosey-Druck um einen Zeilenfehler, wenn nicht gar um einen Sinnfehler handeln. Ein Vermerk darauf im Kritischen Bericht zur Übernahme der Strawinsky-Ergänzungen fehlt. Die Boosey-Ausgabe lag bei der Erstellung des Revisionsberichtes vor*.

* Lediglich im Vorwort Robert Crafts zur Boosey-Ausgabe von Illumina Nos finden sich Bemerkungen über Strawinskysche Korrekturen: „He correted two errors of printing, one of ‚ficta’ and one inaccurate rest, but in the five existing parts he changed the dispotision of only on e note: the tenor’s final E has been dropped an octave.” // „Er korrigierte zwei Druckfehler, eine Ficta und eine falsche Pause, änderte aber sonst nur eine Note in den bestehenden Stimmen: das Schluss-E des Tenors wurde um eine Oktave hinunterverlegt.“

Stil: Die kanonische Arbeitsweise Gesualdos unterscheidet sich in den drei Motetten von seiner sonstigen Kompositionspraxis. Gesualdo galt zu seiner Zeit nicht als gelehrter Musiker, man warf ihm im Gegenteil sogar mangelnde technische Fertigkeiten vor. Die Motetten zeichnen ein anderes Bild von ihm, und dieses Bild verstärkte Strawinsky mit seinen Zusätzen. Gesualdo hat die fehlenden Stimmen niemals in der Weise Strawinskys geschrieben; Strawinskys Einfügungen häufen Gesualdos Eigenarten. Wo Gesualdo nach seiner Art eine oder einige wenige reibende Sekunden geschrieben hätte, füllt Strawinsky damit die ganze Stimme aus. Gesualdos einfache kanonische Imitationen ergänzt Strawinsky mit weiteren an Textstellen, wo man sie nie vermutet hätte, wo sie aber durchaus hinpassen. In Illumina nos mit zu ergänzendem Sextus und Bassus lässt er den Bassus mit einem Canon in Diapason beginnen, gefolgt vom Sextus, den er als Umkehrungsspiegel im Abstand von zwei Vierteln ausarbeitet, so dass mit dem Beginn des originalüberlieferten Cantus diesmal im zeitlichen Abstand von drei Vierteln nun ein dreistimmiger kanonischer Satz entstanden ist, dessen Material gänzlich vom Cantus abgeleitet wurde. Die Sextus-Wendung von Takt 15 macht aus der nachfolgenden Altus-Phrase einen Canon in Diatesseron. Die Beispiele lassen sich vermehren. Strawinsky hat aber nicht frei zukomponiert, sondern seine Motivik aus derjenigen Gesualdos abgeleitet. Auf diese Weise wird das an Gesualdos Eigenart, was ihn für das 20. Jahrhundert so herausragend machte, stilistisch verschärft. Das Ergebnis ist streckenweise ein strawinskyisch überzeichneter Gesualdo.

Widmung: Die Widmung ist Bestandteil des Titels.

Entstehungszeit: III ( Illumina nos ): zwischen 28. [27.] April und 9. [10.] Mai 1957; I/II: September 1959.

Entstehungsgeschichte: Da er bereits am 10. Mai 1957 die vorab fertig zu stellende Partitur Agon, vermutlich samt Klavierauszug, an Roth schickte, ist der Entstehungszeitraum der Bearbeitung von Illumina nos umrissen. Am 18. Mai fragte er bei Roth an, ob alles angekommen sei, und erwähnte seinen Klavierauszug, der unter die Chorsysteme mitlaufend einzudrucken sei, und am 20. Mai klärte er die Vorwortfrage und forderte für Crafts Vorwort einen Honorarbetrag von 50 Dollar, eine verhältnismäßig bescheidene Summe, die später, wie ein Brief Strawinskys an Rufina Ampenoff vom 20. Mai 1960 beweist, für das Vorwort zur dreiteiligen Ausgabe auf 100 Dollar verdoppelt wurde. Am 28. Mai in der Frühe erhielt er vom Verlag die Korrekturabzüge, die er unverzüglich und noch am Nachmittag desselben Tages erledigte. Am 29. Mai war alles einschließlich des Craft-Vorwortes und einer Titelblattvorlage an den Verlag zurückgeschickt. Da pacem Domine und Assumpta est wurden als Manuskriptphotokopie am 29. September 1959 an Roth mit der Bemerkung geschickt, er habe die beiden Bearbeitungen gerade beendet ( I have just completed the bass parts of two of Gesualdo's 6-part sacred cantiones. ). Gleichzeitig begann er nach üblicher Weise zu drängen, weil er die Abzüge gerne bis Januar für die New Yorker Konzerte haben wollte. Am 4. Oktober 1959 bat er telegraphisch um Zusendung eines Exemplars von Illumina nos, da Craft ein neues Vorwort schreiben und dies zusammen mit der neuen Ausgabe veröffentlicht werden sollte. Strawinsky fragte bei dieser Gelegenheit an, ob man Craft dafür ein Honorar von einhundert Dollar zu zahlen bereit sei, wozu sich der Verlag, wie aus späteren Briefen hervorgeht, verstand. Das Vorwort soll noch in derselben Woche hinausgehen, woraus aber wohl nichts wurde; denn mit Brief vom 3. Dezember kündigte Strawinsky Roth die Absendung für den nächsten Tag an. Für Strawinsky dauerte jetzt alles wieder viel zu lange. Am 28. März 1960 mahnte er Roth an, die Motetten mit Crafts Vorwort noch nicht erhalten zu haben. Am 12. Mai drängelte er mit einem Telegramm nach, und am 20. Mai wartete er immer noch auf Motetten und Vorwort, gab aber vorsorglich seine Anschrift als diejenige an, an die man die 100 $ für Craft schicken möge. Danach thematisierte er die Sendung nicht mehr, wohl ein Zeichen dafür, dass er sie endlich erhalten hatte.

Uraufführung: 10. Januar 1960 in New York, Town Hall, unter Leitung von Robert Craft, im Rahmen des Strawinsky-Musikfestes (nicht: 27. September 1960 in Venedig).

Bemerkungen: Nach Craft geht Strawinskys Bewunderung für Gesualdo frühestens auf das Jahr 1952 zurück, nach Strawinskys eigenem Bekunden zehn bis zwölf Jahre vor 1960. Kopien der Sacrae Cantiones von Gesualdo erhielt er aber nicht vor dem Jahre 1956. Damals entschied er sich für eine Rekonstruktion der beiden fehlenden Stimmen nicht zuletzt deshalb, weil er für die Uraufführung von Canticum Sacrum im Dom von Venedig (13. September 1956) Ergänzungskompositionen benötigte, nachdem das Canticum allein von der Zeitdauer her kein abendfüllendes Konzert bestreiten konnte. Strawinskys Brief an Ernst Roth vom 10. November 1955 gibt Auskunft über Strawinskys Planung. So stellte er Roth ein geistliches Programm zusammen: als erste Nummer ein Ricercar für 4 Posaunen von Andrea Gabrieli, als zweite Nummer einen fünfstimmigen Psalm von Heinrich Schütz, die Motette Nr. 14 von Carlo Gesualdo und Lauda Jerusalem von Claudio Monteverdi, beide siebenstimmig. In der Urausgabe ist Illumina nos in einer nicht numerierten Reihenfolge allerdings das Stück Nr. 20. Wie Strawinsky auf die Nr. 14 kommt, in der Urausgabe die Motette Ardens est cor meum, sofern er sich nicht einfach vertan hat, ist ungeklärt. Das Konzert sollte mit seiner Instrumentierung der Bachschen Choral-Variationen beendet werden. Das blieben allerdings vorläufig nicht realisierte Pläne, weil der vorgesehene Anlass andere Gestalt annahm. So verschob Strawinsky den Ergänzungsgedanken, ohne von ihm abzulassen, in die Zeit nach der Fertigstellung von Agon, die am 27. April 1957 erfolgte.

Situationsgeschichte: Im Zuge des Versuchs, die Neue Musik historisch zu legitimieren, spielte die von Deutschland ausgehende Gesualdoforschung schon früh eine besondere Rolle, nachdem Theodor Kroyer bereits im Jahre 1902 auf die Sonderstellung der Gesualdischen Chromatik hingewiesen und Ferdinand Keiner 1914 an der Universität Leipzig die erste Doktorarbeit über Gesualdos Madrigale geschrieben hatte. Diese Tendenz setzte sich in den Europäischen Hochkulturen nach dem Zweiten Weltkrieg fort, so dass auch die Gründung einer Madrigalistenvereinigung ausschließlich zum Zweck der Aufführung Gesualdoscher Musik durch Robert Craft in diesem Zusammenhang zu sehen ist. Auslösendes Moment war vermutlich die Schallplattenfirma Columbia, die eine Marktlücke entdeckt hatte und eine fünfteilige Schallplattenserie Gesualdoscher Madrigale auflegte. Produzent war der von Strawinsky geschätzte David Raksin, der Instrumentator der Strawinskyschen Circus-Polka für Band-Musik. Die Idee dazu kam aber so, wie sich die Schallplatte darstellt, von Strawinskys Freund Aldous Huxley, der auch die raumgreifende Einführung schrieb und Strawinsky mit einband >"A COLLECTION OF MARVELS" / Igor Stravinsky / [Photographie:] / Aldous Huxley & Igor Stravinsky / Aldous Huxley / presents / THE MADRIGALS OF CARLO GESUALDO / Volume I LP 600 LIBRARY OF CONGRESS Catalog Card Number: R56-1000 / SUNSET RECORDS<. Aldous Huxley war, wie nicht nur diese Einführung beweist, ein wissenschaftlich, auch musikwissenschaftlich-analytisch ausgewiesener Gesualdo-Kenner. Vermutlich auf diesem Wege wurden Strawinsky und möglicherweise auch Craft, der sich der Gesualdo-Weitergabe an Strawinsky nie berühmt hat, mit Gesualdo bekannt und Strawinskys gern zitierter Satz über Gesualdo steht gewissermaßen als Motto nicht ohne Grund auf der Titelseite des Begleitheftes der Schallplatten-Ausgabe. Das Copyright der im Oktober und November 1955 aufgenommenen Serie wurde 1956 auf die Sunset Music Corporation ausgestellt. Die Photographien stammten von William Claxton, Toningenieur (Tonmeister) war Val Valentin. Robert Craft hatte eigens zu diesem Zweck eine fünfköpfige Madrigalistenvereinigung ins Leben gerufen, die er >The Singers of Ferrara< nannte und deren Mitglieder aus anderen Dokumentaraufnahmen und Konzertaufführungen Strawinskys bekannt geworden sind (Tenor: Richard Robinson; Sopran: Grace-Lynn Martin, Marilynn Horne; Contralto: Cora Lauridsen; Bass: ). Die Gruppe trat mit entsprechendem Programm am 17. Oktober 1955 im Rahmen der >Monday Evening Concerts< (West Hollywood Park I) auf. An diesem Abend photographierte Claxton auch diese Vereinigung. Die Photographie befindet sich ebenfalls auf dem Begleitheft. - Die Verbindung zwischen Glenn Watkins und Strawinsky kam über die erste der Gesualdo-Platten zustande. Der Gesualdo-Spezialist Watkins, der in Ann Arbor saß und an der Universität von Nordkarolina an der in Deutschland von Wilhelm Weismann begonnenen Kritischen Gesamtausgabe arbeitete, entdeckte Ungenauigkeiten und teilte diese brieflich Craft mit. Von da an begannen die immer enger werdenden Beziehungen zwischen dem Strawinsky-Kreis und Watkins, der Strawinsky 1965 in Hollywood aufsuchte und dabei das Versprechen erhielt, für die in Arbeit befindliche Gesualdo-Mono- oder Biographie von Watkins, wenn sie denn fertig würde, das Vorwort zu schreiben. Strawinsky löste das Versprechen mit Hilfe Crafts im März 1968 tatsächlich ein und verfasste ein zweiteiliges Vorwort, dessen erster Teil eine Laudatio auf Prof. Watkins und seine Forschungen und Forschungsergebnisse ist, im zweiten Teil eine Beschreibung seiner eigenen Wegstationen zu Gesualdo, überwiegend ein scharfzüngig-witziger Reisebericht, wann und wo er auf den Spuren Gesualdos eher unabsichtlich als absichtlich italienische Städte berührte. Watkins veranlasste die Rekomposition der beiden später ergänzten Motetten Da pacem und Assumpta est. Strawinsky war unabhängig von und vor der Bekanntschaft mit Watkins auf das siebenstimmige Illumina nos gestoßen und wollte es eigentlich damit bewenden lassen, bot aber dann, als er Watkins kennen lernte, diesem Photokopien seiner Arbeit an. Dieser wiederum schickte im September 1959 Strawinsky Kopien der beiden anderen Madrigale nach Venedig und bat ihn darum, auch hier die beiden fehlenden Stimmen zu ergänzen, was Strawinsky innerhalb eines Monats besorgte. Dieser Zusammenhang erklärt die Zeitspanne in der Entstehung und die unterschiedliche Erscheinungsweise der drei Motetten. Huxley spielt bei Watkins nur eine Rolle im Anmerkungsapparat, Ratkin wird gar nicht erwähnt. Huxley war 1965 bereits tot, Ratkin trat bloß als Produzent in Erscheinung und war für die wissenschaftliche Gesualdoforschung ohne Bedeutung.

Fassungen: Strawinsky hatte zunächst die raumgreifende siebenstimmige Motette Illumina nos rekomponiert und ließ sie noch 1957 bei Boosey & Hawkes in London mit einem Vorwort von Robert Craft erscheinen. Zwei Jahre später ergänzte er die Motetten Da pacem Domine und Assumpta est Maria und fasste sie mit Illumina nos in einer neuen Ausgabe zusammen, die 1960 bei Boosey & Hawkes erschien und zu der Craft ebenfalls ein Vorwort mit etwas verändertem Inhalt schrieb. Mit dem Druck musste Strawinsky sehr zufrieden sein, sonst hätte er nicht für das Monumentum eine ähnliche erbeten. Man hatte als Titelblatt das Original-Frontispiz der Ausgabe von 1603 gewählt und in den feierlichen Titelspiegel, in dem ursprünglich nur die Gesualdo-Angaben in kursiver Zierschrift standen, die Namen Gesualdos und Strawinskys und den Werktitel rot in Majuskeln eingetragen. Außerdem hatte man ein Faksimile des Indexblattes der Gesualdo-Erstausgabe von 1603 abgedruckt. Im Jahre 1960 veröffentlichte Boosey & Hawkes die vollständige dreiteilige Motettenausgabe. Schließlich 1962 nahm Watkins die drei „rekomponierten" Gesualdo-Motetten mit dem Bildmaterial aus der Ratkin-Huxleyschen Schallplattenserie in die Gesamtausgabe auf, verzichtete dabei auf den eigenständigen Abdruck aus den Stimmbüchern und auch auf die vorangedruckten Stimmlagen und Reversionsnotizen. Man beließ es auch beim Chorsatz, teilte also nicht die untergelegte Klavierstimme mit, auf die Strawinsky sehr viel Wert gelegt hatte, weil man sie sonst wohl auch für alle anderen Stücke hätte originalfremd einrichten müssen. Der Ugrino-Verlag, im Vorwort der Boosey-Ausgabe, nicht im Copyright-Impressum, als Kgrino -Verlag verdruckt, hatte wohl auf dringende Veranlassung von Watkins für die Übernahme in die Gesamtausgabe eine Anfrage an Strawinsky gerichtet. Der wiederum leitete die Sache an Roth mit dem Hinweis weiter, seine Bearbeitung gehöre Boosey und man müsse sich mit Boosey & Hawkes in Verbindung setzen, wenn man sie in die Gesamtausgabe einstellen wolle. Rechtlich sah das wohl etwas anders aus; denn die Boosey-Ausgabe stützte sich auf die Ugrino-Ausgabe von Glenn E. Watkins, mit der man sich zu arrangieren hatte, was auch mit dem Hinweis By arrangement with Ugrino-Verlag, Hamburg geschah, und man hätte ohne weiteres die drei Gesualdo-Motetten nach den Stimmbüchern mit wie bei den anderen Motetten fehlenden Sextus- und Bassus-Partien abdrucken können. Aber Watkins war offensichtlich sehr daran interessiert, die Strawinsky-Ergänzungen in seine Gesamtausgabe aufnehmen zu können, zumal die Strawinsky-Bearbeitung der Ausgabe natürlich einen einmaligen Reiz gab. Er druckte auch Teile von Crafts zweitem Vorwort im eigenen Vorwort ab, widmete es zur Hälfte der Strawinsky-Ergänzung und sprach im deutschen Vorwort von Strawinsky als dem „vielleicht größten Tonschöpfer unserer Zeit" (im englischen Vorwort: perhaps our greatest master today ). Die Rechte für die Verwertung dieser drei Stücke verblieben auch innerhalb der Gesamtausgabe bei Boosey & Hawkes. Den Verlagsvertrag über Illumina nos schloss Strawinsky mit Boosey & Hawkes am 20. Juni 1957, den über die beiden anderen Motetten am 28. Oktober 1959.

Anmerkungen zum Ugrino-Verlag und zur Jahnn-Ausgabe: Der in Hamburg angesiedelte Ugrino-Verlag verdankt seinen Namen einer 1920 von dem Bürgerschreck, späteren Orgelbauexperten, Restaurator der Hamburger Schnitger-Orgel, Mitinitiator der Orgelbewegung und erotomanischen Literaten Hans Henny Jahnn (17.12.1894-29.11.1959) ins Leben gerufenen Weltverbesserungssekte >Ugrino<, eine Auserwählten-Glaubensgemeinschaft mit dem Ziel einer „Wiedergeburt kultischer Archaik", die mit ihrer Zivilisationskritik eine „Erneuerung der Menschheit“ anstrebte, die sich Jahnn wohl in Norwegen ausgedacht hatte, wohin er vor dem Ersten Weltkrieg geflohen war. Die Sekte zerfiel bald, der 1921 von Jahnn und seinem Freunde Gottlieb Harms (gest. 1931) gegründete Verlag überlebte. Hier wurden gezielt die Werke Samuel Scheidts und Dietrich Buxtehudes und andere Musik des Barock herausgegeben, und hier erschien auch zwischen 1957 und 1967 die längst fällige kritische Gesualdo-Gesamtausgabe. Die Strawinsky-Ergänzungen gehörten, streng genommen, nicht in eine kritische Gesamtausgabe hinein. Es war jedoch Bestandteil der Ugrino-Verlagsphilosophie, nicht etwa kritische Ausgaben im Sinne musikwissenschaftlicher Editionstechnik, sondern Gebrauchsausgaben für kultische Räume zur Verbreitung der Sektenidee herzustellen. Daher traten die wissenschaftlichen Gesichtspunkte und damit auch die Bedeutung der kritischen Berichte vor allem in den frühen Gesamt-Ausgaben zurück, daher war es auch möglich, selbst noch in späterer Zeit, da man die Editionsrichtlinien schon genauer beachtete, eine Überschärfung des Originals, wie sie Strawinsky vorgenommen hatte, zu dulden. Herausgeber war zunächst Wilhelm Weismann, ein Komponist mit nachgesagter anthroposophischer Tendenz, der 1948 Professor für Komposition an der Musikhochschule Leipzig wurde und sich, ohne Kommunist zu sein*, im kommunistischen Teil Deutschlands großes Ansehen erwarb. Er zeichnete für die Madrigal-Bände I bis VI (1957- 1962) verantwortlich, für die Bände VII bis XI (1959-1967) Watkins, und nur auf dem zuletzt erschienenen Band X (1967) mit den Instrumentalwerken, Psalmen und Canzonetten findet sich ein Vorblatt > Sämtliche Werke< mit dem Vermerk einer gemeinsamen Herausgeberschaft Weismann-Watkins. Bis 1961 erschienen alle Bände im Ugrino-Verlag, von 1962 in Verbindung mit einem „Volkseigenen Betrieb“ in Leipzig im kommunistischen Teil Deutschlands. Die gesamte Ausgabe wurde in Süddeutschland bei Stürtz in Würzburg gedruckt. dass die ersten Bände im Ugrino-Verlag Hamburg, die letzten im sogenannten Volkseigenen Betrieb Leipzig hergestellt wurden, ist mit der verschlungenen Verlagsgeschichte zu erklären. Nach dem Tode von Harms 1931 und der neuerlichen Flucht Jahnns 1933 aus Deutschland lag die Verantwortung weitgehend bei Hilmar Trede (gest. 1947), der sich mit dem Leipziger Peters-Verlag auf Kommissionsbasis vereinigte. Die Inhaber des Peters-Verlages, die Familie Hinrichsen, wurden von französischen und deutschen Nationalsozialisten ermordet. Jahnn kehrte 1945 zurück und war seit 1956 Alleininhaber. Nach seinem Tode 1959 übernahm seine Tochter Signe Trede den Verlag, der jetzt ohne Devisenzahlung in den alten Peters-Verlag aufging, den die Kommunisten nach 1945 in einen VEB (Volkseigenen Betrieb) verstaatlicht hatten. Wilhelm Weismann war am 20. 9. 1929 in den Peters-Verlag gekommen und blieb dort mit Unterbrechungen bis 1966. Er galt als charakterstark, verlagsloyal und stand auch in den schwersten Zeiten zur Familie Hinrichsen. Er gab zahlreiche Ausgaben heraus, J. Chr. Bach, Brahms, Händel, Haydn, D. Scarlatti, Mozart, und schon 1930 Madrigale von Gesualdo. So war es nicht mehr als folgerichtig, ihn zum Herausgeber der Gesamtausgabe Gesualdo zu machen, als diese endlich 1957 noch unter Jahnn begann. Vermutlich hatte Weismann, im Verlag ohnehin für Gesualdo zuständig, keine oder nur eine ganz lockere Verbindung zur eigentlichen Jahnn-Idee. Sein Gebiet waren die Madrigale, für die anderen Kompositionen Gesualdos wurde Watkins zuständig.

* nach brieflichen Mitteilungen Winfried Schrammeks und Frieder Zschoch.

Historische Aufnahme: nicht nachweisbar.

CD-Edition: nicht aufgenommen.

Autograph: Verbleib nicht bekannt.

Copyright: 1960 durch Boosey & Co., Ltd. nach Übereinkommen mit Ugrino Verlag Hamburg.

Ausgaben

a) Übersicht

93-1 1957 Chp Illumina nos ; l; Boosey & Hawkes London; 18 S. 8°; B. & H. 18345.

93-2 1960 Chp; l; Boosey & Hawkes London; 35 S. 8°; B. & H. 18690.

93-3 1962 Gesualdo-Gesamtausgabe; — ; DV 4779.

b) Identifikationsmerkmale

93-1 Gesualdo – Strawinsky / Illumina nos / Boosey & Hawkes // Don Carlo Gesualdo / Illumina nos / from the book of ‘Sacræ Cantiones’ for six and seven voices / tiré des ‘Sacræ Cantiones’ à six et sept voix / aus den ‘Sacræ Canti für sechs und sieben Stimmen / (1603) / The missing Sextus and Bassus parts composed by / Les parties du sextus et du bassus composées par / Die fehlende Sextus- und Bassus-Stimme hinzugefügt von / Igor Strawinsky / with a preface by / Robert Craft / Boosey & Hawkes, Ltd. / London · Paris · Bonn · Capetown · Sydney · Toronto · Buenos Aires · New York // (Chorpartitur schwarzfadengeheftet 18,3 x 25,9 (8°); Singtext lateinisch; 18 [18] Seiten + 4 Seiten Umschlag schwarz auf cremeweiß [Außentitelei, 3 Leerseiten] + 10 Seiten Vorspann [Innentitelei, Leerseite, Einführungstext englisch unpaginiert, Forsetzung und Schluss Einführungstext englisch + Einführungstext deutsch unpaginiert, Forsetzung Einführungstext deutsch unpaginiert, Fortsetztung und Schluss Einführungstext deutsch + Einführungstext französisch unpaginiert, Fortsetzung und Schluss Einführungstext französisch unpaginiert, Faksimile des Titelblattes der Erstausgabe von 1603, Faksimile der Indexseite der Erstausgabe von 1603, Leerseite] ohne Nachspann; Kopftitel in Verbindung mit Autorenangaben 1. Notentextseite paginiert S. 1 mittig zentriert >DON CARLO GESUALDO / ILLUMINA NOS / from the book (1603) of SACRÆ CANTIONES for six and seven / voices. The missing Sextus and Bassus parts were composed by / IGOR STRAWINSKY<; Rechtsschutzvorbehalt 1. Notentextseite unterhalb Notenspiegel rechtsbündig >All rights reserved< linksbündig >© 1957 by Boosey & Co., Ltd.<; Herstellungshinweis 1. Notentextseite unterhalb Notenspiegel mittig halbrechts >Printed in England<; Platten-Nummer >B. & H. 18345<; ohne Endevermerke) // 1957

93-2 ^CARLO GESUALDO DI VENOSA* / (1560-1613)* TRES* / SACRAE CANTIONES* / Completed by / IGOR STRAWINSKY*^ / BOOSEY & HAWKES // (Chorpartitur fadengeheftet 18,2 x 25,3 (8°); Singtext Latein; 35 [29] Seiten + 6 Seiten Vorspann [Zieraußentitelei rot-schwarzgrau auf cremeweiß in Form einer Faksimile-Wiedergabe des Titelblattes der Gesualdo-Erstausgabe von 1603 unter Austausch des originalen Schrifttextes mit dem Text der Boosey-Ausgabe, Leerseite, Einführung englisch >TRES SACRAE CANTIONES / by / Carlo Gesualdo di Venosa / 1560-1613 / completed by / Igor Stravinsky / For the 400th Anniversary of Gesualdo's birth<, Fortsetzung und Schluss der >R.C.< gezeichneten Einführung + Herkunftsnachweis kursiv > This edition is based on the edition of Professor Glenn E. Watkins published by Agrino-Verlag**, Hamburg. <, Faksimile der Indexseite der Erstausgabe von 1603 + 1 Seite Nachspann [Leerseite ]; statt Kopftitel unpunktiert römische Stücknummer und Liedtitel >I / Da pacem Domine< [S. 7: >II / Assumpta est Maria<; S. 18: >III / Illumina nos<] 1. Notentextseite paginiert S. 7; ohne Autorenangabe; Rechtsschutzvorbehalt unterhalb Notenspiegel rechtsbündig S. 7, 13, 18 >All rights reserved< linksbündig S. 7, 13 >© 1960 by Boosey & Co., Ltd. / By arrangement with Ugrino-Verlag, Hamburg< S. 18 >© 1957 by Boosey & Co., Ltd. / By arrangement with Ugrino-Verlag, Hamburg<; Herstellungshinweis S. 7, 13,18 unterhalb Notenspiegel mittig halbrechts >Printed in England<; Platten-Nummer >B. & H. 18690<; Ende-Nummer S. 35 linksbündig als Endevermerk >5. 60. E.) // 1960

^ ^ Tafelfläche 9,7 x 7,4.

* Rotdruck.

** Druckfehler (falsch Agrino statt richtig Ugrino) original.

93-3 1962 [Gesualdo-Gesamtausgabe Band IX; Ugrino-Verlag Hamburg; S. 19-22, 58-61, 89-97; ohne Platten-Nummer; Editions-Nummer DV 4779]


K Cat­a­log: Anno­tated Cat­a­log of Works and Work Edi­tions of Igor Straw­in­sky till 1971, revised version 2014 and ongoing, by Hel­mut Kirch­meyer.
© Hel­mut Kirch­meyer. All rights reserved.
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